Europa logologo schuldorf 03

Literaturwerkstatt 2015

Beitragsseiten

 

 

Der Tag, der alles ändert, ist meistens eine Nacht

 

Er öffnete leicht die Lippen und ließ den Rauch aus seinen Lungen entweichen. Es bildete sich eine weiße Wolke, die sein Gesicht umtanzte. Der Geruch von Nikotin vermischte sich mit dem von Schweiß und Bier, der sich in der Tapete des Raumes festgesetzt hatte, die in den Ecken schon abzublättern begann. Ein Ventilatorblatt verfolgte das andere, es schien eine unendliche Jagd zu sein.

Außer dem Summen des Ventilators hallte nur das stetige Klicken des Kameraverschlusses an den Wänden wider.
Der Blick durch die Kamera umrahmte die Szene und das schwarz-weiße, farblose Abbild erschien ihr so viel echter als die Realität.
Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Fliege, die auf dem vergilbten Blumenmuster an der Wand herumkrabbelte und die Füße aneinander rieb, fast so, als würde sie sich hämisch grinsend über einen fiesen Plan freuen, den sie gerade ausheckt hatte. Während er das Insekt mit den Augen verfolgte und erneut an der Zigarette zog, hatte sie aufgehört Fotos zu machen, jedoch schaute sie immer noch durch die Kamera und beobachtete ihn, seinen Oberkörper, seine Augen, seine Lippen.
Sie verlor sich in Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, Zeiten, in denen seine Aufmerksamkeit noch ihr galt, Zeiten, in denen sie jeden Abend Arm in Arm eingeschlafen waren. Sie waren Fremde geworden. Die kleine heruntergekommene Wohnung war nur das Ebenbild ihrer Beziehung, das Produkt eines zerstörerischen Prozesses. Als es angefangen hatte so zu werden, hatte sie sich täglich gefragt, wie es so weit kommen konnte, was sie falsch gemacht hatten. Irgendwann hatte sie es einfach hingenommen, sich nicht mehr dagegen gewehrt.
Sie wechselten kaum noch ein Wort miteinander, wenn sie abends nach Hause kam, fragte er sie nicht mehr, woher sie kam und wenn sie morgens wieder das Haus verließ, wollte er nicht wissen, wohin sie ging.
Einige Male schon, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, einfach ihre Kamera einzupacken und die Stadt zu verlassen. Was hielt sie davon ab? Waren es ihre Gefühle? Oder war es nur die Erinnerung an die Gefühle?
Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, dass er sich bereits zum Gehen gewendet hatte. Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schreckte sie auf.
Ihr Blick fiel auf die Handtasche neben der Tür. Er hatte sie ihr geschenkt, zum ersten Jahrestag. Sie war früher rot gewesen, doch das Leder hatte sich mit der Zeit abgenutzt und die Farbe war verblichen. Ihr war bewusst, dass niemand sie zurückhielt und doch wusste sie, wenn sie jetzt durch die Tür gehen würde, würden kalte Hände sie zurückstoßen, sie würden an ihr zerren, ihr den Weg versperren. Sie wusste nicht, ob sie sie die Kraft aufbringen konnte, gegen die Hände anzukämpfen und die Angst vor der Enttäuschung war zu groß. An diesem Abend kam er nicht mehr nach Hause. Obwohl sie wusste, dass sie heute Nacht alleine schlafen würde, lag sie auf ihrer Seite des Bettes, sodass er sich jederzeit zu ihr legen könnte, würde er heimkommen. Sie war unruhig und konnte keinen Schlaf finden, deshalb spielte sie mit der Kamera, probierte verschiedene Einstellungen aus, betrachtete durch sie das Schlafzimmer. Der Raum war ebenso kahl wie das Wohnzimmer, es gab kaum persönliche Gegenstände, nur eine braune Holzschachtel, in welche ihr Lieblingszitat eingeritzt war: Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.
Seit sie ihre erste Kamera hatte, bewahrte sie dort ihre Fotos auf. Fotos, die ihr Leben beschrieben, Fotos die Geschichten erzählten. Sie fokussierte das Zitat und drückte den Auslöser. Sie legte die Kamera auf den Nachttisch und schloss die Augen.
Am nächsten Morgen fiel ein erster warmer Sonnenstrahl auf ihr Gesicht, er beleuchtete die Holzschachtel, auf die ihr Blick fiel, als sie die Augen öffnete.
Auf einmal wurde es ihr klar. Wie ein Schlag ins Gesicht fühlte es sich an. All die Monate war sie blind durch ihr Leben gelaufen, sie hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte sich die ganze Zeit selbst belogen. Sie war unglücklich. Unglücklich über ihr Leben, über ihre Beziehung, unglücklich über das, was sie erreicht hatte, und über das, was sie nicht erreicht hatte. Niemand, außer ihr, konnte das ändern.
Sie hatte die Wahrheit vor sich selbst versteckt, Ausreden für ihre Situation gesucht, auf eine Veränderung gewartet. Doch diese Veränderung würde nicht kommen, wenn sie nicht handelte.
Sie musste weg, frei musste sie sein, sie war so jung, es lag so viel vor ihr, eine riesige, weite Welt, die sie mit offenen Armen empfangen würde, Tausende von Menschen warteten darauf, ihr zu begegnen, Orte, von ihr erkundet zu werden. Nichts mehr hielt sie fest.
Und er? Was war mit ihm? Sie wusste, dass auch er unglücklich war. Sie konnte nicht einfach gehen und ihn seinem Leid überlassen. Eilig raffte sie sich auf, wühlte in Schubladen, fand, was sie suchte. Einen Zettel und einen Stift. Darauf kritzelte sie die letzten Worte, die ihr gestern vor dem Einschlafen durch den Kopf geflogen waren: Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun. Erfüllt von neuer Lebensenergie lief sie durch die Wohnung, füllte die Tasche mit allem, was wichtig für sie war. Zuletzt hängte sie sich die Kamera um ihren Hals. Bevor sie die Wohnung das letzte Mal verließ, legte sie den Zettel auf den Küchentisch.
Als sie die graue Stadt hinter sich gelassen hatte, kam die Sonne, die sich vorher hinter den Wolken versteckt hatte, wieder hervor und tauchte die Welt in ein warmes, goldenes Licht. Der Frühlingswind umspielte ihr Haar und ein süßlicher Duft von Blumen stieg ihr in die Nase. Jetzt wusste sie, dass sie frei war und zum ersten Mal seit Monaten nahm sie den Schwarz-Weiß-Filter von ihrer Kamera, schaute durch die Linse und hielt den Moment in all seiner Farbenpracht fest.

Lara Kinzel (Q2)

Diese Website nutzt Cookies, um bestmögliche Funktionalität bieten zu können.