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Literaturwerkstatt 2015

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Ohne Titel

Ich saß im Zug und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Die Sonne ging langsam unter und der Himmel färbte sich rosa-lila. Völlig erschöpft schloss ich für einen kurzen Moment die Augen und ließ den Tag Revue passieren. Plötzlich bemerkte ich, dass sich jemand neben mich setzte und ein bekannter Geruch stieg mir in die Nase. Es war das Parfüm der Person und sofort wurde ich von der Vergangenheit eingeholt. Erschrocken fuhr ich auf. Ich wollte doch nur mit der Vergangenheit abschließen, doch es war nicht so einfach, wie gedacht.
„Entschuldigung, habe ich dich erschreckt? Ist dieser Platz bereits besetzt?
Ich kann mich auch woanders hinsetzen…“, fragte mich eine ruhige, warme Stimme.
Ich blickte der Person ins Gesicht. Es war ein junger Mann.          
„Nein, bleiben Sie ruhig sitzen. Ich habe mich nur erschreckt. Tut mir leid“, erwiderte ich.
„Du kannst mich ruhig duzen. Ist sonst alles in Ordnung bei dir? Du siehst nicht besonders gut aus.“
„Ja, alles in Ordnung. Ich hatte nur ein paar anstrengende Tage, danke der Nachfrage.“
Ich wunderte mich über die Höflichkeit und Fürsorglichkeit des jungen Mannes.
Für eine Weile musterte ich ihn, denn er kam mir unglaublich bekannt vor, aber ich wusste nicht,
woher ich ihn kennen könnte. Er sah aus wie ungefähr 19, hatte faszinierende goldbraune,
warme Augen und seine Kieferpartie war außergewöhnlich markant. Dann fiel mein Blick auf seine Uhr. Irgendetwas fesselte mich an dieser Uhr und ich konnte meinen Blick nicht abwenden.
„Ich sehe, du starrst auf meine Uhr?“, fragte er grinsend.
„Ja, ich habe so eine noch nie gesehen“ , antwortete ich peinlich berührt.
„Sie gehörte meinem Opa. Er hat sie mir geschenkt, als ich noch ein kleines Kind war und
jetzt passt sie mir wie angegossen“, erzählte er.
„Das ist schön, dass die Uhr eine wichtige und große Bedeutung für dich hat“, sagte ich beeindruckt.
„Weißt du, was noch viel schöner ist und noch eine größere Bedeutung hat?“ , fragte er mit einem ernsten Blick. „Was?“ , fragte ich zögerlich. „Die Zeit“, sagte er leise.
„Die Zeit?“, fragte ich überrascht. „Ja, die Zeit. Hast du dir nie darüber Gedanken gemacht, wie viel die Uhrzeit eigentlich bedeutet? Sie begleitet dich von morgens bis abends, du richtest dich nach ihr und ohne sie würde die Welt nur noch pures Chaos sein.“ Er hörte auf zu reden und schien in seinen Gedanken verloren zu sein. Auch ich sagte nichts. Dann fing er an weiter zu reden,
„Die Zeit kann dein bester Freund sein, sie hilft dir deinen Alltag zu organisieren, aber sie kann auch zu deinem Feind werden. Die Zeit rennt und rennt und sie hört niemals auf. Sie macht für keinen eine Ausnahme und stoppt. Versuche die Zeit sinnvoll zu nutzen und genieße die Zeit in vollen Zügen, denn irgendwann läuft deine Zeit ab. Lebe nicht in der Vergangenheit und versuche endlich damit abzuschließen, auch wenn es schwierig ist.“ Ich war sprachlos, denn mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. „Ich versuche es wirklich, doch ich werde immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Meine Gefühle spielen mittlerweile verrückt…“
„Gefühle können verrückt spielen, genau so wie die Zeit“, sagte er mit einem traurigen Lächeln.
Ohne ein weiteres Wort stand er auf und stieg aus. Ich war verwirrt, denn ich fragte mich,
was Gefühle mit der Zeit zu tun haben. Und dann fiel mir die Antwort ein:
Man kann weder Gefühle noch die Zeit kontrollieren.

Thy Thy Ta (Q2)

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